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EuGH-Urteil zu „Thermofenstern“: Weitreichende Folgen auch für die rechtliche Bedeutung von Qualitätsmanagementsystemen

Mit Spannung war dieses Urteil im Umfeld des Dieselskandals erwartet worden. Am 21. März 2023 hat der Europäische Gerichtshofs (EuGH) seine bisherige Rechtsprechung bestätigt, dass sogenannte Thermofenster, ein Typ von Abschalteinrichtungen, unzulässig sind. In dem Urteil (C-100/21) zieht der Gerichtshof die rechtlichen Konsequenzen daraus und weckt weitgehende Erwartungen der betroffenen Verbraucher auf Schadensersatz. Bislang hatte die deutsche Rechtsprechung gegen solche Ansprüche hohe Hürden errichtet. Wegen des Vorrangs des EU-Rechts vor dem restriktiven nationalen Recht müssen diese Hindernisse nun deutlich reduziert werden.

Übereinstimmungsbescheinigung vertraglich bindend

Nach dem geltenden EU-Typgenehmigungsrecht muss der Fahrzeughersteller jedem „individuellen Käufer“ eines Fahrzeugs eine „Übereinstimmungsbescheinigung“ aushändigen. Im wesentlichen Kern hat der Gerichtshof entschieden, dass dieses Dokument dem Käufer vertraglich bindend versichert, dass das von ihm erworbene Fahrzeug allen EU-Rechtsvorschriften entspricht.

Ist die Übereinstimmungsbescheinigung, wie in den Dieselskandalfällen, unrichtig, dann ist dem individuellen Käufer ein Schaden entstanden, der von dem Hersteller zu kompensieren ist. Das Urteil ist für die Wirtschaftsakteure fast aller Branchen folgenreich: Der Gerichtshof leitet die Schadensersatzansprüche dem Grunde nach aus dem Unionsrecht ab. Das Unionsrecht legt den Mitgliedsstaaten nur grundsätzlich auf, falsche Übereinstimmungsbescheinigungen zu sanktionieren. Die Sanktionen definiert es aber nicht. Daher müssen die Mitgliedsstaaten jetzt in Fortbildung ihres Haftungsrechtssystems den Haftungsrahmen bestimmen. Dabei kommt es nicht nur auf die sogenannten „deliktischen“ Anspruchsgrundlagen, also zum Beispiel Betrug, an. Es geht auch um vertragliche Schadensersatzansprüche: Da die Übereinstimmungsbescheinigung immer auch Bestandteil des jeweiligen individuellen Kaufvertrages ist, wirkt sich das Urteil auch auf Schadensersatzansprüche aus der Verletzung vertraglicher Pflichten der Hersteller (zum Beispiel Gewährleistungsansprüche) aus. Der Gerichtshof hat im Ergebnis indirekt – wie schon in früheren Verfahren – die Auffassung des Generalanwalts bestätigt, dass die Verbraucherkaufrichtlinie 1999/44/EG mit der Folge Anwendung findet, dass ein Fahrzeug, das mit einer unzulässigen Übereinstimmungsbescheinigung ausgestattet ist, nicht vertragsgemäß ist. Die Verbraucherkaufrichtlinie ist inzwischen durch die Richtlinien 2019/770/EU und 2019/ 771/EU abgelöst worden. Nach ihrer Umsetzung in das deutsche Kaufrecht mit Wirkung ab dem 1. Januar 2022 sind die Folgen für diese Vertragsverletzung aus dem Kaufvertrag wesentlich verschärft worden.

Konformität mit normierten QMS gefordert

Und spätestens an dieser Stelle wird das Urteil auch für das Qualitätsmanagement relevant. Denn die Übereinstimmungsbescheinigung weist insbesondere aus, dass das Fahrzeug, wie auch andere Produkte, unter den produktspezifischen Handlungs- und Prozessbedingungen eines normierten Qualitätsmanagementsystems entsprechend der EN ISO 9001:2015 in „Übereinstimmung (mit) der Produktion“ hergestellt wurde.

So resümiert jedenfalls Ekkehard Helmig. Das ehemalige Mitglied des DGQ-Vorstands berät als Rechtsanwalt Unternehmen der Automobilbranche und hat das gesamte Verfahren intensiv verfolgt. Er kommt zu dem Schluss: „Die ‚Übereinstimmung mit der Produktion‘ kann nur auf Grundlage eines zertifizierten Qualitätsmanagementsystems belegt werden. Die unmittelbare gesetzliche Außenwirkung dieser Bedingung für den Nachweis von Konformität war bisher nicht Gegenstand der deutschen oder der europäischen Rechtsprechung. Der Gerichtshof musste verfahrensbedingt nicht auf diese Fragenstellungen eingehen, weil er nur auf die ihm vom Landgericht Ravensburg gestellten Detailfragen antworten konnte. Mit der zentralen Bedeutung, die der Gerichtshof der ‚Übereinstimmungsbescheinigung‘ als Nachweis der ‚Übereinstimmung der Produktion‘ beigemessen hat und mit seiner Feststellung, dass Normen Bestandteil der europäischen Rechtsordnung sind, ist folgendes klargestellt: Die Konformität der Herstellung von Produkten unter allen Bedingungen des Qualitätsmanagementsystems entsprechend der EN ISO 9001:2015/IATF 16949:2016 dient unmittelbar dem Schutz des Endnutzers – nicht nur des Verbrauchers. Der Endnutzer kann sich unmittelbar darauf berufen.“

Erheblicher und dringender Handlungsbedarf

Nach seiner Auffassung rückt jetzt der rechtliche Stellenwert des normierten Qualitätsmanagementsystems (Qualitätsmanagement im Recht) in den Fokus. Dies hat zur Folge, dass die Handlungs- und Prozessbedingungen nach der EN ISO 9001:2015 als verpflichtend dokumentierte Handlungs- und Organisationspflichten mit unmittelbarer Außenwirkung (Recht im Qualitätsmanagement) zugunsten aller eventuell betroffenen „interessierten Parteien“ in Betracht gezogen werden müssen. Dies gilt für alle Kunden und Verbraucher.  Verstöße gegen Regelungen der EN ISO 9001:2015 stellen die Richtigkeit einer Übereinstimmungsbescheinigung infrage, weil sie nicht mehr die „Übereinstimmung der Produktion“ bescheinigen. Die jetzt aufgrund des Urteils des Gerichtshofs geforderte Transparenz der Herstellungsprozesse entsprechend der Norm bedeutet beispielsweise für den Fall von Gerichtsverfahren, dass nach entsprechenden Beweisanträgen alle „dokumentierten Informationen“ (EN ISO 9001:2015, Kapitel 7.5) vorgelegt werden müssen. Diese Transparenz auf Unionsebene ist im Übrigen in der jetzt geltenden Typgenehmigungsverordnung 2018/858 angelegt.

Die Rechtsprechung des Gerichtshofs hat mit ihrer Veröffentlichung am 21. März 2023 ab diesem Tag unmittelbare Auswirkungen insbesondere auf

(i)         das gesamte Risikomanagementsystem des Unternehmens,

(ii)        das QMS einschließlich SQM,

(iii)       die Zertifizierung/Auditierung,

(iv)       die Vertragsbeziehung zu Kunden,

(v)        die Vertragsbeziehung in der Supply Chain,

(vi)       den Versicherungsschutz

Die deliktischen und vertragliche Haftungsgrundlagen gelten uneingeschränkt auch im Verhältnis der Wirtschaftsakteure jeder Wertschöpfungskette. Auf die Branche kommt es nicht an.

Noch muss das Urteil des EuGH in deutsches nationales Recht umgesetzt werden. Am 8. Mai 2023 wird sich der Bundesgerichtshof mit Konsequenzen des Urteils des Gerichtshofs befassen. Mit einer Erweiterung der Haftungsgrundlagen für Unternehmen muss sicher gerechnet werden.

Die DGQ wird die Entwicklung weiterhin verfolgen und kontinuierlich darüber informieren.