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Standardisierte Normen oder normierte Standards: was denn nun?

Normen und Standards

Unser aller Alltag ist geprägt, ja nahezu gepflastert, mit den Ergebnissen aus der Anwendung von Anforderungen aus Normen und Standards: die Konfektionsgröße unserer Kleidung, die Höhe unserer Küchentische, die Brennbarkeit verwendeter Baumaterialien, die mechanische und elektrische Ausgestaltung unserer Kaffeemaschine oder die Maßeinheit zur Messung unserer Wegstrecken. Doch nur wenige wissen, was wirklich hinter Normen und Standards steckt und welche Arten es gibt.

Seinsnormen und Sollensnormen

Der Begriff „Norm“ ist lateinischen Ursprungs und kann Regel, leitender Grundsatz, Vorschrift, Maßstab oder Muster bedeuten. Es gibt zwei Arten von Normen: die Seins- und die Sollensnormen. Die Seinsnormen oder auch Naturgesetze sind Feststellungen über Gesetzmäßigkeiten in den Naturwissenschaften und damit unveränderlich. Die Sollensnormen sind von Menschen erschaffene Regeln, werden von diesen durchgesetzt und können durch diese auch verändert werden.

Soziale Normen und Rechtsnormen

Soziale Normen sind Regeln bezüglich des Verhaltens von Menschen. Diese Handlungsregeln können Gebräuche, Gebote oder Verbote sein und spiegeln eine Wertehaltung sowie die Erwartung der Gesellschaft an das Verhalten des Individuums wider. Soziale Normen gelten innerhalb einer Gruppe und definieren das als „normal“ angesehene Verhalten. Sie sind abhängig von der Situation, von der gesellschaftlichen Gruppe sowie vom zeitlichen Kontext. Des Weiteren sind sie nicht endgültig festgelegt und unterliegen einem ständigen Wandel. Häufig erleichtern soziale Normen das Zusammenleben, da sie Verhaltensregelmäßigkeiten fördern, wodurch ein gewisses Verhalten des jeweils anderen erwartet werden kann und Reaktionen berechenbar werden. Die Befolgung bzw. die Missachtung von sozialen Normen kann durch das Umfeld positiv oder negativ sanktioniert werden.

Rechtsnormen sind die Basis von gesetzlichen Vorschriften oder auf gesetzlichen Grundlagen basierende Gewohnheitsrechte. Sie stellen Verhaltensanforderungen auf und können auf sozialen Normen basieren und daher ebenfalls das menschliche Handeln regeln oder lenken, dem menschlichen Handeln eine bestimmte Richtung geben oder dieses koordinieren. Der Bruch oder die Missachtung von sozialen Normen und Rechtsnormen wird durch die Zufügung von Nachteilen oder den Entzug von Vorteilen sanktioniert. Ergänzend kann eine bestimmte Handlungsweise auch eine positive Sanktion nach sich ziehen. Im Gegensatz zu sozialen Normen und deren Missachtung werden die Sanktionen nach der Missachtung von Rechtsnormen durch staatliche Organe gesetzt und durchgesetzt.

Normen und Standards als freiwillig anzuwendende Vorgabedokumente

Die Erarbeitung, Publikation und Anwendung von Normen und Standards fördert den freien Handel, schafft kosteneffiziente Massenmärkte, ermöglicht Innovationen und bietet Orientierung im täglichen Leben. Je nach Situation, Bedarf und Zielgruppe finden unterschiedliche Arten von Vorgabedokumenten Verwendung.

Normen und Standards legen Regeln, Leitlinien und Merkmale von Tätigkeiten oder deren Ergebnisse fest. Diese sind nicht verpflichtend, sondern freiwillig anzuwenden.

Normung ist die Erarbeitung von Normen. Sie sind das Ergebnis einer planmäßigen Vereinheitlichung von materiellen und immateriellen Gegenständen zum Nutzen der Allgemeinheit.

  • Normen werden unter Einbeziehung aller interessierten Kreise und unter Mitwirkung der Öffentlichkeit erarbeitet.
  • Entscheidungen in Normengremien werden gemeinschaftlich und im Vollkonsens getroffen.
  • Normen werden auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene erarbeitet.
  • Das Ergebnis der Normung wird von einer anerkannten formellen Normungsorganisation angenommen und veröffentlicht. Aufgrund der bewährten Erarbeitungsprozesse verfügen Normen über eine hohe Legitimation.

→   Die genaue Vorgehensweise der internationalen Normung ist im DGQ‑Fachbeitrag „Wie entsteht eine ISO-Norm“ dargelegt.

Standardisierung ist die Erarbeitung von Vorgabedokumenten wie Technischen Regeln, Spezifikationen, informellen Konsortialstandards, De‑facto‑Standards und Werknormen. Hierzu gibt es keine verpflichtenden Regeln für eine konsensuale Entscheidungsfindung innerhalb der ausarbeitenden Gremien, für die Einbeziehung aller interessierten Kreise, für die Mitwirkung durch die Öffentlichkeit oder für die Veröffentlichung der Ergebnisse.

  • Technische Spezifikationen werden wie Normen in formellen Normungsorganisationen erarbeitet und beschreiben Merkmale von und Anforderungen an Produkte, Dienstleistungen oder Systeme. Bei der Erarbeitung von Spezifikationen ist die Teilnahme aller interessierten Kreise sowie die konsensuale Entscheidungsfindung während des Erarbeitungsprozesses nicht zwingend erforderlich.
  • Technische Regeln sind von Fachverbänden erarbeitete Vorschläge zur Vorgehensweise, Einhaltung oder Umsetzung von Gesetzen, Verordnungen oder technischen Abläufen. Technische Regeln bspw. des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI), des Verbands Deutscher Maschinen- und Analgenbau (VDMA) oder des Verbands der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik (VDE) können durch Verweise aus Gesetzen verbindlich werden.
  • Informelle Konsortialstandards werden von einem Zusammenschluss von ausgesuchten Unternehmen erarbeitet. Sie beruhen zumeist auf einem Mehrheitsbeschluss innerhalb des (Standardisierungs-)Konsortiums.
  • De‑facto‑Standards sind von einzelnen Organisationen erarbeitete Vorgabedokumente und erhalten bei entsprechender Marktnachfrage eine überorganisational regelgebende Wirkung. Für De‑facto‑Standards wird auch der Begriff Industriestandard verwendet.
  • Werknormen werden durch Unternehmen, Behörden oder Körperschaften erstellt und sind das Ergebnis organisationsinterner Normungsarbeit entsprechend der eigenen Bedürfnisse. Werknormen fördern Qualität, Produktivität sowie Innovation und werden intern durch die eigene Organisation oder extern bspw. durch Zulieferorganisationen angewendet.

Bedeutung von Normen und anderen Vorgabedokumenten

Die TU Berlin befragt seit 2012 jedes Jahr Unternehmen aus Industrie, Dienstleistung und dem Öffentlichen Sektor zu Normung und Standardisierung. Dabei wird alljährlich ersichtlich, dass die von Normungsorganisationen erarbeiteten Normen und Technischen Spezifikationen die höchste Bedeutung erfahren. Dies gilt unabhängig von der Branche der Organisationen. Je größer die jeweilige Organisation ist, desto wichtiger werden formelle Normen. Die insgesamt höchste Bedeutung wird harmonisierten Normen beigemessen.

In den Branchen Fahrzeugbau, Metallproduktion sowie der Chemie- und Pharmaindustrie sind Werknormen für Qualitäts- und Produktivitätssteigerungen in der Lieferkette wichtig. Insbesondere für die Bereiche Optik und Medizintechnik spielen neben internationalen Normen auch internationale Konsortialstandards eine wichtige Rolle.

Insgesamt haben Normen einen deutlich stärkeren Einfluss auf den Erfolg von Organisationen als Konsortial- oder De‑facto‑Standards. Hier stärken Normen die Rechtssicherheit, erleichtern den Marktzutritt und fördern die Herstellung technischer Interoperabilität. Werknormen werden bevorzugt für Qualitäts- und Produktivitätssteigerungen verwendet.

Literatur

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Normen und Richtlinien

DIN 820-1:2014-06. Normungsarbeit – Teil 1: Grundsätze. Berlin: Beuth.

DIN 820-3:2014-06. Normungsarbeit – Teil 3: Begriffe. Berlin: Beuth.


Über den Autor:
Martin Vonach hat über zehn Jahre Erfahrung bei der Anwendung und Interpretation von Produktnormen für elektronische Geräte in der internationalen Lichtindustrie sowie bei der Anwendung, Interpretation und Implementierung von Anforderungen an Managementsysteme. In seiner Masterarbeit beschäftigte er sich mit dem Entstehungsprozess von Normen und den inhaltlichen Entwicklungspotentialen der Norm ISO 9001:2015.