Pflege in Zeiten von Corona – kommen jetzt die Assistenzsysteme?
Das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 stellt alle Pflegebereiche vor große Herausforderungen. Von der ambulanten Versorgung bis hin zur Pflege von Menschen mit Behinderung – alle Fachgebiete und alle Berufszweige sind betroffen. Dies wirkt sich auch auf die Qualitätssicherung aus. So lagen die Prüf- und Begutachtungsverfahren zum neuen Indikatoren-gestützten Modell zur Begutachtung und Qualitätsdarstellung von Pflegeheimen kurz nach deren Einführung Corona-bedingt auf Eis. Ähnlich ist es auch den erst seit Januar 2020 geltenden Pflege-Personaluntergrenzen für Krankenhäuser ergangen. Sie wurden im März schon wieder außer Kraft gesetzt.
Worin liegen die besonderen Herausforderungen der Pflege in Pandemiezeiten?
Eines liegt auf der Hand: Beschäftige in Kliniken und Pflegeeinrichtungen sind einem höheren Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Das belegen Zahlen des wissenschaftlichen Instituts der AOK. Die Fehlzeitenrate im Zusammenhang mit Corona ist in den Pflegeberufen mehr als zweieinhalbmal so hoch wie im Durchschnitt aller Beschäftigten (WIDO, 2020).
Eine Studie der Universität Bremen zeigt zudem, dass über die Hälfte der Menschen, die im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion gestorben sind, aus Pflegeeinrichtungen stammt (Universität Bremen, 2020). Es gehört international zu den Lehren der Pandemie, dass Menschen, die aufgrund ihrer Wohn- und Lebenssituation bereits stark beeinträchtigt sind, jetzt von zusätzlichen Risiken bedroht sind. In diesem Zusammenhang steht ein weiterer Punkt im Fokus des Medieninteresses: die krisenbedingt augenfällige soziale Ausgrenzung in der stationären Altenpflege.
Pandemie – Chance für Assistenzsysteme?
In der Corona-Krise wird besonders deutlich, dass Leistungserbringer und -empfänger vom gezielten Einsatz intelligenter Assistenzsysteme profitieren können. So lässt sich beispielsweise durch Video-Kommunikation die Teilhabe auf hohem Niveau aufrechterhalten. Menschen, die aufgrund ihrer Einschränkungen vom sozialen Leben abgekoppelt sind, können auf diese Weise mit anderen in Kontakt bleiben und diese hören und sehen. Das trifft in allen Pflegesettings zu.
Hinzu kommen krankenhausspezifische Bedarfe an Assistenzsysteme, z. B. zur Unterstützung bei Routinearbeiten. Ein Beispiel hierfür bietet die Kombination aus Schwesternruf und Monitoring-System. Damit sind nicht nur Video-Kontakte zu Dritten, zum Beispiel den Angehörigen, möglich. Auch der Pflege- und Versorgungsprozess profitiert, da sich viele Situationen besser visuell einschätzen lassen, als über das Gehör allein.
Verfügen die Systeme zusätzlich über Sensoren, sind die Vorteile noch gravierender. Wird bspw. eine Kontaktmatte am Patientenbett berührt, die eine Videokommunikation zum Pflegepersonal aufbaut, lässt sich schnell einschätzen, ob es sich um einen Notfall handelt und welche Art der Unterstützung erforderlich ist.
Ein weiterer Vorteil liegt in der Infektionsvermeidung: Je mehr Routinearbeiten aus der Ferne möglich sind, desto besser lässt sich das Infektionsrisiko für alle Beteiligten senken. Dafür braucht es auch kein hochtechnisiertes Equipment. Per Monitor kann eine Pflegekraft z. B. beurteilen, ob die richtige Person die richtige Tablette bekommt und sie richtig einnimmt. Auch ein Teil der pflegerischen Beratung lässt sich aus der Distanz erbringen. Was auf den ersten Blick wenig wünschenswert klingt, ermöglicht vor allem in einer Situation wie der aktuellen Corona-Pandemie, das Risiko von Ansteckungen zu reduzieren und damit Leben zu retten.
Auseinandersetzung mit und Einbeziehung beim Einsatz von Technik in der Pflege fehlt
Der Wert des Einsatzes von Assistenzsystemen macht sich für Einrichtungen vor allem daran fest, welche Unterstützung in der Behandlung geleistet werden kann. Insbesondere solche Systeme, die man kostengünstig bei Routinearbeiten einsetzen kann, haben eine größere Akzeptanz als komplexe und besonders teure Assistenzsysteme wie z. B. Exoskelette oder Roboter.
Das Angebot an Assistenzsystemen ist vielfältig, dennoch spielen sie in der pflegerischen Wirklichkeit nur eine untergeordnete Rolle. Das liegt nicht an der Affinität der Pflegekräfte für digitale Anwendungen (BGW, 2017). Die Gründe hierfür sind vielschichtig.
Zum einen fehlt es vielen Produkten an Wirksamkeitsnachweisen. Dieser ließe sich nur durch hohen Aufwand seitens der Hersteller und Leistungserbringer im Zusammenspiel mit unabhängigen Forschungseinrichtungen erbringen. Erschwerend kommt hinzu, dass Kriterien wie Lebensqualität mit quantitativen Verfahren schwer messbar sind.
Der mangelnde Nachweis hat zudem Einfluss auf die Finanzierung. Digitale Assistenzsysteme finden sich quasi nicht im Pflegehilfsmittelkatalog.
Die Hersteller selbst haben es darüber hinaus oft versäumt, Pflegepersonal in die Entwicklung innovativer Produkte ausreichend einzubeziehen. Das führt dazu, dass Pflegekräfte während der Entwicklungsphase nicht die Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, um später mit diesen Produkten und der Technologie umzugehen. Nicht zuletzt ist Pflege eine Dienstleistung. Assistenzsysteme können nur dann eine Wirkung erzielen, wenn die Individualität der betreuten Menschen in den Mittelpunkt rückt.
Überholte Denkmodelle als Innovationsbremse in der Pflege?
Bei der Frage, warum Assistenzsysteme nicht flächendeckend zum Einsatz kommen, müssen auch die Machtverhältnisse in der Gesundheitswirtschaft bedacht werden. Pflege wird mehr als Kostenfaktor und lästiges Übel gesehen, denn als Innovationstreiber und Wertschöpfungsinstrument. In der gesamten Leistungskette finden sich diese überholten Denkmodelle. Kaum eine Pflegekasse setzt sich mit innovativen Ansätzen und dem Einsatz von Technik in der Pflege auseinander. Auch die Leistungserbringer machen sich nicht die Mühe, die eigenen Kostendämpfungspotenziale durch den gezielten Technik-Einsatz zu nutzen.
Zudem löst digitale Technik eher Ängste vor Datenmissbrauch aus, als Stürme der Begeisterung für die Möglichkeiten, die sich aus der Förderung der Selbstständigkeit, der Teilhabe und der Vermeidung von Pflegeabhängigkeit für die Leistungsempfänger ergeben.
Auch in den Ausbildungs-Curricula angehender Pflegekräfte hat der Kompetenzerwerb für digitale Assistenzsysteme keinen Platz. Lehrkräfte und Praxisanleiter verfügen zudem meist nicht über das erforderliche Know-how, um entsprechende Fähigkeiten zu vermitteln.
Wie in der Pflege insgesamt, sollte auch beim Einsatz der Assistenzsysteme der Mensch im Mittelpunkt stehen. Der Grad, in dem seine Bedarfe erfüllt werden, wäre der Maßstab für die Bewertung der erbrachten Pflegequalität. Dies gilt einerseits für Pflegekräfte, denen solche Assistenzsysteme die Arbeit erleichtern können. Es gilt andererseits auch für Leistungsempfänger, deren Gesundheit und Lebensqualität durch diesen Einsatz bewahrt oder sogar gefördert wird.