Personalmaß in der Pflege – Chance oder Bürde?
Es ist schon ein sperriges Wort: Personalbemessungsverfahren. Es wird im Pflegejargon mit „PeBeM“ abgekürzt und führt in der Branche wegen seiner weitreichenden Folgen zu vielen Diskussionen. Doch was ist das „PeBeM“, wird es gebraucht und kann es die Qualität der Pflegeleistungen verbessern?
Abwärts-Spirale
Hintergrund: Seit langem leidet die Pflege unter einem zunehmenden Mangel an Personal, mittlerweile auch im Bereich der weniger gut Qualifizierten. Gründe dafür sind die Arbeitsbedingungen bei vergleichsweise bescheidenen Karrierechancen und der rasante Anstieg des Pflegeleistungs-Bedarfs wegen der alternden Gesellschaft.
Die Folge ist ein Teufelskreis: Wo eigentlich immer mehr Pflegepersonal gebraucht wird, macht der Mangel den Beruf zusätzlich immer unattraktiver. Die körperlich und seelisch anstrengende Arbeit findet nicht genug neue Interessent:innen, um den wachsenden Bedarf zu decken. Der Krankenstand ist hoch, insbesondere Fachpersonal steigt aus.
Vorschläge und Lösungsversuche, um die sich drehende Spirale aus steigendem Bedarf und schlechter werdenden Bedingungen zu durchbrechen, gibt es zu Hauf. Bereits in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde für Krankenhäuser eine Pflegepersonalregelung (PPR) eingeführt, die eine Mindestausstattung an Krankenpflege-Fachkräften abhängig vom Bedarf vorsah.
PPR offenbarte Personalmangel in Kliniken
Die Bestandsaufnahme bei der Einführung der PPR zeigte, dass bereits damals eine große Personal-Lücke in Kliniken klaffte. Der berechnete Bedarf lag weit über dem Bestand. Im Zuge einer Reform der Krankenhausfinanzierung wurde die Regelung dann aber kurzerhand wieder abgeschafft – mit dramatischen Folgen bis heute.
Denn die Pflegepersonalausstattung in Kliniken richtete sich fortan nicht mehr nach pflegerischem Bedarf und Aufwand, sondern nach den entstehenden Kosten. Um die zu drücken, wurde dort Pflegepersonal sukzessive verringert. Jetzt häufen sich Fälle, in denen Aufnahmestopps verhängt werden oder sogar Krankenhaus-Stationen vorübergehend geschlossen werden, weil das Pflegepersonal fehlt.
Genauso ist die derzeitige Situation in der Langzeitpflege. Heime haben lange Wartelisten, ambulante Pflegestationen verhängen Aufnahmestopps. Allerdings gab es bisher in der Langzeitpflege keine vergleichbare Grundlage für die Berechnung des vorzuhaltenden Personals und deren Qualifikation wie einst für Kliniken. Als Anhaltspunkt diente nur die sogenannte Fachkraftquote. Sie ist historischen Ursprungs und legt willkürlich den Anteil der Fachkräfte am eingesetzten Personal in Pflegeheimen auf mindestens 50 Prozent fest. Diese starre Quote wird den unterschiedlichen Anforderungen der Praxis nicht gerecht.
Neustart für die Langzeitpflege
Die Fachkraftquote stand deshalb zunehmend in der Kritik. Sie bildet nicht den tatsächlichen Bedarf an Pflegekräften und deren Qualifikation ab. Zudem mangelt es vielerorts schlicht an Fachpersonal, um die Quote ständig zu erreichen. Wo das nicht geschieht, verhängen die mit der Kontrolle beauftragten Heimaufsichten bis dato Aufnahme- und Belegungsstopps. Das führt nicht selten zu finanziellen Schieflagen der betroffenen Pflegeheime, weil dann Einnahmen fehlen.
Der Gesetzgeber hat 2017 mit dem zweiten Pflegestärkungsgesetz die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen damit beauftragt, ein Verfahren zur Ermittlung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen zu ermitteln. Die Universität Bremen wurde daraufhin mit einer wissenschaftlichen Studie beauftragt, um nach pflegefachlichen Kriterien eine Methode zu entwickeln, die den Bedarf an Pflegepersonal in Pflegeeinrichtungen bestimmt.
Das Ergebnis ist das Personalbemessungsinstrument, mit dem der Bedarf an Pflegekräften für eine gute Pflege ermittelt werden kann. Die liegt nach dem Gesetz vor, wenn sie „nach qualitativen und quantitativen Maßstäben“ ausreichend ist.
Das Personalmaß für Heime…
Dieses Instrument ist die Grundlage für die seit Juli 2023 geltende Personalberechnung in der Langzeitpflege, kurz „PeBeM“. Es berücksichtigt die in Deutschland geltende Einteilung des Pflegebedarfs nach Pflegegraden. Je höher dieser ist, desto mehr Fachexpertise wird benötigt. Folglich müssen Einrichtungen mehr Fachpersonal vorhalten, in denen mehr Menschen mit einem höheren Pflegebedarf versorgt werden.
Da sich im Zuge der Studie herausstellte, dass die Berechnungssystematik nicht auf den ambulanten Sektor zu übertragen ist, gilt das Verfahren nur für Pflegeheime. „PeBeM“ ist also ein Qualitätsinstrument, mit dem die gesetzlichen Personal-Anforderungen für gute Pflege in Heimen umgesetzt werden sollen. Es gilt eine Übergangsfrist bis 2025. So lange haben die Heimbetreibenden Zeit, ihren Personalstamm an die Regelungen anzupassen. Und diese Anpassungen haben es in sich!
Denn die Studie der Universität Bremen brachte ans Licht, dass der Tätigkeitsmix in Heimen häufig an den fachlichen Erfordernissen vorbeigeht. Insbesondere Pflegefachkräfte übernehmen Aufgaben, für die sie eigentlich überqualifiziert sind. Diese könnten – als ein Ergebnis der Studie – von weniger qualifiziertem Personal, sogenannten Assistenzkräften, übernommen werden.
…wälzt Strukturen in den Einrichtungen um
Das bedeutet in der Praxis, dass bestehende Arbeitsabläufe geändert werden müssen und die jeweiligen Gruppen sich auf die Tätigkeiten konzentrieren, die ihrer Qualifikation entsprechen. Dies gilt insbesondere für Aufgaben, für die es fachliche und rechtliche Vorbehalte gibt:
- Pflegefachkräfte führen die entsprechenden Vorbehaltsaufgaben der Fachpflege aus und leiten den Pflegeprozess.
- Unterstützungsaufgaben werden drei Qualifikationsniveaus zugeordnet, je nach Dauer der Ausbildung: zweijährig, einjährig ausgebildete und angelernte Assistenzkräfte.
Das Vorhaben erfordert massive Umstrukturierungen in den Einrichtungen und stellt nach der Meinung vieler Expert:innen eine organisatorische Revolution in der stationären Pflege dar.
Aber keine Mahlzeit ohne Essen…
Hinzu kommt der allgemeine Personalmangel. Denn die Studie konstatiert auch, dass in allen Qualifikationsniveaus ein Defizit herrscht, von durchschnittlich 3,5 % bei Fachpersonal bis zu 69 % bei Assistenzkräften. Das heißt, selbst wenn Pflegefachkräfte nur die ihnen vorbehaltenen Aufgaben übernehmen würden, sind es absolut dennoch zu wenige.
Das bedeutet gleichzeitig, dass mit der Einführung des PeBeM die quantitativen Anforderungen an gute Pflege nicht erfüllt sind. Zu beobachten sein wird, ob der Qualifikationsmix flächendeckend in der Praxis funktioniert. Schließlich handelt es sich um eine grundlegende Umstrukturierung im laufenden Betrieb bei gleichzeitig sehr angespannter Personalsituation.
…und das kostet Geld
Inhaltlich wird spannend, wie die Rollen der Pflegedienst- und Pflegebereichsleitungen in den Einrichtungen neu definiert werden. Denn sie übernehmen momentan häufig die steuernden Aufgaben im Pflegeprozess. Die sollen im Zuge der Reform von den Pflegefachfrauen und -männern in der direkten Pflege wahrgenommen werden.
Eine Herausforderung wird auch die Finanzierung sein. Denn ein Mehr an Personal kostet Geld. Der Anstieg schlägt bei Pflegekassen, Heimbewohnern über die zu leistenden Eigenanteile und auch den Kommunen zu Buche, die den mit jeder Kostenerhöhung wachsenden Anteil an Sozialhilfeempfangenden stemmen müssen. Vor allem in den Verhandlungen mit den Kassen zeichnet sich ab, dass es ein zähes Ringen geben wird.
Fazit
Seit der Studie zur Personalbemessung, die dem PeBeM zugrunde liegt, ist nun mit Fakten belegt, dass es zu wenig Pflegepersonal jedweder Qualifikation gibt. Dass ein Mangel an ausreichend qualifiziertem Personal die Qualität der Leistungen verschlechtert, ist eine Binsenweisheit. Mit der Reform ist aber noch keine Pflegekraft gewonnen. Als Methode für die Sicherung der Pflegequalität kommt das PeBeM also an seine Grenzen.
Bisher wusste aber niemand genau, wie viel Personal für gute Pflege erforderlich ist. Das PeBeM beinhaltet eine nachvollziehbare Bestimmung dieses Personalbedarfs für Heime. In der Dauerdebatte über Personalquoten kann diese Methode dazu dienen, den emotional geführten Diskurs zu versachlichen. Das gilt auch, obwohl einige Kriterien bei der Bestimmung des Personalbedarfes und die Zuordnung der Tätigkeiten zu Qualifikationsniveaus wissenschaftlich vereinzelt angreifbar sind.
Gebraucht wird die Reform also. Denn nun kann der Personalmangel in der stationären Pflege auf Basis von definierten und vergleichbaren Messgrößen quantifiziert werden. Übrigens erlebt die Personalberechnung für die Pflege in der Klinik gerade mit der PPR 2.0 eine Renaissance. Das birgt Chancen für eine Neuauflage des öffentlichen Diskurses zur Steigerung der Attraktivität des Berufsfeldes Pflege insgesamt.
Dies sollte auch der ambulanten Pflege zu Gute kommen. Das ist der größte Bereich in der Pflege, wenn es um den Bedarf, die Menge der Leistungen und die Anzahl der pflegenden Hände geht. Bezogen auf die Masse der versorgten Menschen läge dort das größte Potential. Aber hier gelten weder PPR noch PeBeM und über die Qualität der Leistungen entscheidet häufig der private Geldbeutel.
Es muss viel geschehen, damit der Druck der Straße nicht durchschlägt und das ganze Vorhaben zunichtemacht. Denn der erwartete weitere ungeheure Anstieg an pflegebedürftigen Menschen droht das Vorhaben vor die Wand zu fahren. Dies würde neben dem Pflegenotstand auch ein dauerhaftes Qualitätsloch in der Pflege bedeuten.
Über den Autor:
Holger Dudel ist Fachreferent Pflege der DGQ. Er ist gelernter Krankenpfleger und studierter Pflegepädagoge und Pflegewissenschaftler. Er hat zuvor Leitungsfunktionen bei privaten, kommunalen und freigemeinnützigen Trägern der Langzeitpflege auf Bundesebene innegehabt. Qualität im Sozialwesen bedeutet für ihn, dass neben objektiver Evidenz auch das „Subjektive“, Haltung und Beziehung ihren Platz haben.