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FQS-Forschungsprojekt: Das ISO GPS-System erfolgreich in die Praxis integrieren

Das System der Geometrischen Produktspezifikation und -verifikation (ISO GPS-System) bildet als größtes Normensystem der ISO im Maschinenbaubereich den Stand der Technik für die Spezifikation und Verifikation von Bauteilen ab. Das umfangreiche Normensystem zu durchschauen und umzusetzen, stellt für viele Unternehmen jedoch eine Herausforderung dar.

Im Rahmen des von der FQS Forschungsgemeinschaft Qualität e. V. geförderten Forschungsprojektes „GPSlife“ wurden in einem Zeitraum von zwei Jahren unter der Leitung der Professur Fertigungsmesstechnik an der TU Chemnitz gemeinsam mit Partnern aus Industrie und Weiterbildung neue und nachhaltige Umsetzungsstrategien für das komplexe ISO GPS-System entwickelt. Ziel des Projektes war es, durch eine reifegradbasierte Roadmap Methoden und Vorgehensweisen zur Integration der Geometrischen Produktspezifikation in der Praxis zu erarbeiten, welche insbesondere auf die Anforderungen von KMU abgestimmt sind, um somit flächendeckend ein gelebtes GPS-System zu erreichen. Im Interview stellen Prof. Dr. Sophie Gröger, Leiterin der Professur Fertigungsmesstechnik an der TU Chemnitz und Juliane Schuldt, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Professur Fertigungsmesstechnik an der TU Chemnitz, die wichtigsten Ergebnisse vor.

Welche Relevanz hat das ISO GPS-System heute und welche konkreten Chancen ergeben sich durch die Nutzung des Normensystems?
Prof. Dr. Sophie Gröger: “Mit dem internationalen Normensystem der Geometrischen Produktspezifikation und -verifikation als umfassende non-verbale Sprache wird die einheitliche und vollständige Beschreibung der Geometrie von Produkten gewährleistet. Aus diesem Grund hält dieses System in immer weiteren Bereichen und Branchen, wie z. B. der Medizintechnik, Einzug. Vor allem in KMU ist bis heute unzureichend bekannt, welche Potentiale die betriebliche Einführung und eine konsequente Anwendung für die langfristige Wettbewerbssicherung mit sich bringt. Neben eindeutigen, vollständigen und rechtssicheren Spezifikationen, ergeben sich unter anderem Chancen durch die Reduzierung von Mehrdeutigkeiten, Rückführbarkeit von Messungen und Konformität zu QM Vorgaben. Außerdem ist die Anwendung des ISO GPS-Systems eine elementare Vorbereitung auf Zukunftsthemen, wie beispielsweise Digitaler Zwilling, Closed Loop Engineering, die Synchronisierung von Konstruktion, Fertigung und Qualitätssicherung sowie die Weiterentwicklung aktueller Simulationsmethoden (Montagesimulation etc.).”

Vor welchen Herausforderungen stehen Unternehmen, insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen (KMU), bei der Anwendung des ISO GPS-Systems?
Prof. Dr. Sophie Gröger: “Das ISO GPS-System unterliegt seit Jahren einem starken normativen, regelgebundenen Wandel, wobei zahlreiche Abkürzungen, Symbole, Prinzipien und Regeln in neuen und überarbeiteten Normen veröffentlicht werden. Dabei existierten bis 1996 weniger als 40 Einzelnormen. Seitdem wurden zahlreiche Normen hinzugefügt, sodass es aktuell reichlich 150 gültige und weitere 20 in Überarbeitung befindliche Normen gibt. So wurde beispielsweise die zentrale Norm zur geometrischen Tolerierung, die ISO 1101, in den Jahren 2011, 2014 und bereits wieder 2017 überarbeitet und erweitert. Diese hohe Überarbeitungsgeschwindigkeit stellt nicht nur für KMU eine große Herausforderung dar. Das Gesamtsystem nahm in den letzten Jahren eine Komplexität und Dynamik an, die für Unternehmen schwer überschaubar ist.

Zudem sind in KMU oft nur geringe Personalkapazitäten für die Beschaffung und Integration neuer Normen vorhanden. Darüber hinaus fehlen Standards für die Aus- und Weiterbildung auf diesem Gebiet. Zum Integrationsvorgehen existierten vor dem Forschungsprojekt auch keine veröffentlichten und allgemeingültigen Empfehlungen. Die Folge dieser normativen Komplexität und der fehlenden Ausbildung ist ein differenzierter Umgang mit dieser Fachsprache, der mit zunehmenden Akzeptanz- und Anwendungsschwierigkeiten einhergeht.”

Was ist für ein gelebtes GPS-System notwendig?
Juliane Schuldt: “Die Einführung und nachhaltige Anwendung des ISO GPS-Systems muss als langfristiger Veränderungsprozess von den Unternehmen verstanden werden. Für die erfolgreiche Einführung, Verwirklichung, Aufrechterhaltung, Verbesserung und Weiterentwicklung des ISO GPS-Systems ist ein neues Aus- und Weiterbildungskonzept verbunden mit einer Integrationsstrategie und eines Bewertungsinstruments notwendig. Im Rahmen des Forschungsvorhabens wurde eine Roadmap erarbeitet, welche das Integrationsvorgehen Schritt für Schritt beschreibt und einen Methodenkasten zur Unterstützung der sechs Phasen enthält. Da die Einführung nicht ohne eine begleitende Schulung aller Fachkräfte, jedoch in unterschiedlicher Geschwindigkeit und Tiefe, ablaufen kann, entstand ein neues Aus- und Weiterbildungskonzept. Zur objektiven Bewertung des Integrationsvorgehens sowie des Weiterbildungsprozesses stellt ein kompetenzbasiertes GPS-Reifegradmodell, welches im Rahmen des Projektes entwickelt und teilweise bereits erprobt ist, eine ganz neue Dimension dar.”

Wie ist das im Forschungsprojekt erarbeitete GPS-Ausbildungskonzept aufgebaut?
Juliane Schuldt: “Herzstück des neuen GPS-Ausbildungskonzeptes ist eine Differenzierung aller GPS-Normeninhalte in fünf Schwierigkeitslevel. Im Rahmen des Projektes wurden die Level Anfänger/in, Fortgeschrittene/-r, Erfahrene/-r, Spezialist/in und Master/Coach ausgearbeitet und beschrieben. Im Level 1 „Anfänger/-in“ werden Grundlagen, Basiswissen, Prinzipien und Regeln zur Anwendung des ISO GPS-Systems vermittelt. Es werden Zusammenhänge zwischen Funktion, Spezifikation, Herstellung und Verifikation vermittelt. Im Level 2 und 3 wird das GPS-Verständnis vertieft und mittels Übungsszenarien anwendbares GPS-Wissen vermittelt. Ab dem Level 4 werden die GPS-Inhalte auf unternehmensspezifische Beispiele übertragen, Sonderfälle geschult und komplexe Sachverhalte integriert. Als Master im Level 5 ist man im Unternehmen zuständig für die interne Beratung und ggf. Schulung, praktische Integration neuer Normeninhalte und/oder Anpassen interner Regelungen, Templates usw. Diese Level-Struktur ermöglicht es, fachkräftespezifisch die GPS-Inhalte zu vermitteln, denn nicht jeder Mitarbeiter im Unternehmen benötigt GPS-Wissen in gleicher Menge und Tiefe.”

Was müssen Unternehmen bei der Einführung des GPS-Systems berücksichtigen?
Prof. Dr. Sophie Gröger: “Im Forschungsprojekt wurden einerseits verschiedene Unternehmen befragt, welche sich schon länger mit der Integration des GPS-Systems beschäftigen, anderseits wurden bewährte Konzepte aus der Einführung von QM-Systemen und ERP-Systemen recherchiert. Daraus wurde u.a. eine Successful Practice für die GPS-Integration abgeleitet. Diese beinhaltet den Entwurf eines Unternehmenskonzeptes im Vorfeld des Einführungsprozesses und die Bildung eines ISO GPS-Expertenteams für das Unternehmen sowie die Benennung eines GPS-Hauptverantwortlichen für die Projektleitung und langfristige Koordination. Anschließend folgt die Erstellung eines Schulungskonzeptes und die gestaffelte Ausbildung der Beschäftigten. Regelmäßige interne Spezifikations- und Verifikationsreviews unterstützen den Prozess. Es folgt die Übertragung auf unternehmensspezifische Inhalte und die Erstellung von Templates, Vorgehensweisen, Musterzeichnungen, Konstruktionszeichnungen für die nachhaltige Anwendung.”

GPSlife-Integrationsvorgehen

GPSlife – Integrationsvorgehen (TU Chemnitz)

 

Mit dem im Rahmen des Forschungsprojekts entwickelten Reifegradmodells lassen sich erstmals GPS-Kompetenzen objektiv bewerten. Welche Dimensionen werden abgebildet und wie können Unternehmen das Modell einsetzen?
Juliane Schuldt: “Für das Reifegradmodell wurde das gesamte GPS-System in 12 Dimensionen eingeteilt. Dazu zählen beispielsweise Allgemeintoleranzen, Form-, Richtungs-, Orts- und Lauftolerierungen und Rauheit. Aktuell existiert das Reifegradmodell als Excel-Programm. Zu allen Dimensionen wurden Indikatoren definiert, welche jeweils mit einer „klickbaren“ Checkliste untersetzt sind. Diese Checklisten können Mitarbeitende als Selbsteinschätzung nutzen oder Führungskräfte im Rahmen von Personalgesprächen bzw. zur Erhebung des Weiterbildungsbedarfs. Mit dem Reifegradmodell lassen sich aber auch anonym GPS-Kompetenzen von Organisationseinheiten erheben oder im Rahmen der Lieferantenbewertung ist eine Anwendung möglich. Die Auswertung aller Checklisten und damit die Bestimmung des Reifegrades erfolgt tabellarisch und zusätzlich grafisch als Sunburst-Diagramm. Für eine breite Anwendung wird derzeit eine webbasierte Version entwickelt, welches zukünftig über die Projektwebsite abgerufen werden kann.”

GPSlife-Reifegradmodell

GPSlife-Reifegradmodell als Sunburst-Diagramm (TU Chemnitz)

Welchen Nutzen haben die Forschungsergebnisse und wie können Unternehmen nach Projektabschluss von den erarbeiteten Lösungen profitieren?
Prof. Dr. Sophie Gröger: “Das beschriebene GPS-Integrationsvorgehen, GPS-Ausbildungskonzept und das entwickelte GPS-Reifegradmodell bieten die optimale Grundlage, das ISO GPS-System im Unternehmen nachhaltig einzuführen. Mit Hilfe der beschriebenen „Schritt für Schritt“- Integrationsstrategie wird eine Komplexitätsreduzierung erreicht, welche den Aufwand für die Einführung des GPS-Systems überschaubar macht. Durch die ganzheitliche Vorgehensweise mit lexikalischer Erarbeitung des Wissens und fortlaufender Reifgradbewertung werden die KMU befähigt, zukünftige Neuerungen im GPS-System selbstständig umzusetzen. Eng verzahnt mit dem Schulungskonzept ergänzt das vorgestellte Reifegradmodell den GPS-Einführungs- und Anwendungsprozess. Das GPS-Reifegradmodell steht in gekürzter Fassung als „Light“-Version demnächst über die Projekthomepage zur Verfügung. Im DIN-Normenausschuss NA 152-02-03 gibt es erste Bestrebungen die Anwendung des GPS-Systems mit einer Schritt-für-Schritt-Strategie zu beschreiben und als Leitfaden zusammenzustellen.”

 


Stimmen aus dem Projektbegleitenden Ausschuss:
Gemeinsam mit vier weiteren Industriepartnern waren die Hirschvogel Holding GmbH und DGQ Weiterbildung GmbH als Mitglieder des Projektbegleitenden Ausschusses „GPSlife“ an den Forschungsarbeiten beteiligt. Nach dem Ende des Projekts ziehen sie ein kurzes Fazit ihres Engagements:

 

Renate Kettner, Hirschvogel Umformtechnik GmbH
GPS ist ein sehr umfangreiches Thema, das in der Praxis bei laufenden Prozessen sehr schwierig einzuführen und umzusetzen ist. Da wir mit der Einführung bereits begonnen hatten und dabei einige Schwierigkeiten auftraten, war es für uns sehr interessant, unsere Erfahrungen einfließen zu lassen. Die Forschungseinrichtung hatte immer ein offenes Ohr für uns. Gemeinsam wurden unsere Praxisprobleme diskutiert, die daraufhin zum Teil als Input in das Projekt eingeflossen sind. Das Ergebnis stimmt uns positiv. Wir hoffen, dass daraus noch E-Learnings entstehen werden, die jedes Unternehmen verwenden kann, um Mitarbeiter, Zulieferer und Kunden zu schulen. Die gute Zusammenarbeit mit der TU Chemnitz hat uns in jeder Hinsicht geholfen. Durch die Gespräche und Abstimmungen konnte man verschiedene Sichtweisen besser verstehen und gemeinsame Lösungen erarbeiten. Die komplette Umsetzung ist immer noch ein weiter Weg, aber es wurden verschiedene Aktivitäten gestartet, die das Ganze leichter gestalten werden.

 

Dietmar Heuer, DGQ Weiterbildung GmbH
Die DGQ offeriert als Weiterbildungsmöglichkeit zwei Trainings, die Inhalte zum GPS-System vermitteln: Das Training „Geometrische Produktspezifikationen (GPS) – Form- und Lagetoleranzen“ sowie das Grundlagentraining „Geometrische Produktspezifikationen (GPS) für Entwickler und Konstrukteure“. Aus diesem Grund haben wir sofort zugesagt, als die FQS mit der Frage auf zukam, ob wir uns im Projektbegleitenden Ausschuss beteiligen wollen. In unseren Trainings erfahren wir von Teilnehmenden immer wieder aus erster Hand, wie relevant das Thema GPS ist, aber auch wie groß die damit verbundenen Herausforderungen sind. Durch das Projekt erhielten wir einerseits die Möglichkeit, diese Erfahrungen einzubringen. Andererseits lernten wir verschiedene Sichtweisen über die Anwendung des GPS-System in Unternehmen und die Anforderungen an die Weiterbildung kennen. Eine essentielle Erkenntnis für uns: GPS-Weiterbildung ist kein Einmalaufwand. Hohe Komplexität und stetige Weiterentwicklung des GPS-Systems erfordern eine immer wiederkehrende Auffrischung des Wissens bei allen Anwendern.

 

Über die Interviewpartner:

Prof. Dr. Sophie Gröger, Leiterin Professur Fertigungsmesstechnik an der TU Chemnitz

Juliane Schuldt, wissenschaftliche Mitarbeiterin Professur Fertigungsmesstechnik an der TU Chemnitz

Renate Kettner, Corporate Development, CAD Inhouse Consultant / Design Engineer, Hirschvogel Umformtechnik GmbH

Dietmar Heuer, DGQ-Produktmanager, DGQ Weiterbildung GmbH

 


Über das Forschungsprojekt:
Das IGF-Vorhaben 21491 BR der FQS – Forschungsgemeinschaft Qualität e. V., August-Schanz-Straße 21A, 60433 Frankfurt am Main wurde über die AiF im Rahmen des Programms zur Förderung der Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF) durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert.

Das Forschungsvorhaben ist abgeschlossen. Der Schlussbericht steht der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung und kann entweder über die FQS – Forschungsgemeinschaft Qualität e. V. oder die Forschungseinrichtung (fmt@mb.tu-chemnitz.de) auf Anfrage bezogen werden.

Kontakt:
FQS – Forschungsgemeinschaft Qualität e. V.
August-Schanz-Straße 21A
60433 Frankfurt am Main
infofqs@dgq.de

Projektwebsite: https://www.fertigungsmesstechnik-chemnitz.de/forschung/gpslife/

Kontaktdaten für weitere Fragen, Umsetzung- und Anwendungsmöglichkeiten der Projektergebnisse sowie zum GPS-System allgemein:
Prof. Dr. Sophie Gröger, Leiterin Professur Fertigungsmesstechnik der TU Chemnitz unter www.fertigungsmesstechnik-chemnitz.de

Informationen zu den Trainings der DGQ Weiterbildung GmbH: https://shop.dgq.de/


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