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30. November 2016

IATF 16949:2016: Zwangskorsett für die Zulieferindustrie oder handwerklich gut gemachter und zielführend auditierbarer Standard?

Um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, hat Kai-Uwe Behrends, Leiter der Landesgeschäftsstelle Nord der DGQ in Hamburg, mit DGQ-Automotive-Trainer Thorsten Höppner anlässlich einer Firmenkundenveranstaltung zum neuen Branchenstandard der Automobilindustrie gesprochen.

DGQ-Trainer Thorsten Höppner findet, der neue Standard ist "handwerklich" einfach gut gemacht.

DGQ-Trainer Thorsten Höppner findet, der neue Standard ist ‚handwerklich einfach gut gemacht‘.

Kai-Uwe Behrends: Der neue Automobilstandard wird vom Internationalen Verband der Automobilhersteller (IATF) gehalten, nicht mehr von ISO. Ist das eine ‚Privatisierung‘ von gemeinwohlorientierten Normen zu eigennützigen Zwecken?

Thorsten Höppner: Praktisch ändert sich nicht viel: IATF sagt selbst: „… der QMS-Standard der Automobilindustrie kann nicht als eigenständiger QMS-Standard angesehen werden. Vielmehr ist dieser Standard als Ergänzung zu und nur in Verbindung mit der ISO 9001:2015 zu verstehen.“ IATF ist weiter dem TC 176 der ISO verbunden, richtet sich (im Gegensatz z.B. zur neuen Medizinprodukte ISO 13485) nach der vorgegebenen Grundstruktur (HLS), war sehr schnell in der Überarbeitung beim Konsens (anders als etwa ISO selbst bei der Arbeitsschutznorm ISO 45001). Spürbar ist für den Anwender erstmal nur, dass ISO 9001 im Automobilstandard nicht mehr mitabgedruckt ist.

KB: Kollegen haben einmal gezählt und kamen auf 24 neue Anforderungen, 35 erweiterte Anforderungen und max. 26 zu dokumentierende Prozesse. Ist das nun die ‚Geißel der OEMs für die Zulieferindustrie‘, ein Rückfall in Zeiten vor QS9000?

TH: Es gibt neue Forderungen, es gibt eine noch engere Führung als durch die TS 16949. Allerdings sind etliche bisher kunden- oder länderspezifische Forderungen nun in der Norm, entfallen aber dafür als ‚Sonderlocken‘. Die Branche hat nun mehr Standard und weniger Extrawünsche – das ist nur zu begrüßen. Umfang und Detaillierung haben zugenommen – aber das liegt auch an sehr vielen hilfreichen Beispielen. Diese werden im Ergebnis für sehr viel mehr Klarheit sorgen, individuelle Interpretationsspielräume der Auditoren werden eingegrenzt, Kommunikation wird widerspruchsfreier – auch das ist zu begrüßen.

KB: Aber da ist von Nickligkeiten zu lesen wie etwa, dass Sperrlagerteile unbrauchbar gemacht werden müssen… ist das nicht zu ‚kleinkariert‘, schadet so etwas nicht dem Ansehen des QM, des Berufsstands?

TH: Im Gegenteil. Auch solche erstmal merkwürdig erscheinenden Forderungen sind Ergebnis des Erfahrungswissens von Praktikern, die im Konsens in den Standard eingeflossen sind. Stellen Sie sich den Reputationsschaden und die Haftungsquerelen vor, die entstehen, wenn z.B. Außenstehende sicherheitsrelevante Teile vom Schrott nehmen (‚sieht doch noch gut aus‘) und auf Onlineplattformen ‚privat‘ verkaufen. Das musste ausgeschlossen werden.

KB: Sie sind ein echter Fan, gibt es denn kein ‚Haar in der Suppe‘, nichts aus Sicht des Anwenders Bedenkliches?

TH: Glücklicherweise hängt IATF 16949 an der ISO 9001:2015, das begrenzt den Aufwand für die Anwender. Bedauerlicherweise heißt das aber auch, dass die Übergangsfrist von ISO 9001 auch für die IATF 16949 gilt. Der 14. September 2018 scheint noch lang hin. Aber die Forderungen müssen in den Betrieben umgesetzt werden. Auditoren müssen ausgebildet und durch die Zertifizierer zugelassen werden. Es ist zu befürchten, dass gerade erfahrene Auditoren die erneuten Qualifizierungs- und Aufrechterhaltungsaufwende scheuen, den automotiven Auditorenmangel noch verstärken. Es könnte auf Seiten der Zertifizierer zum Ende der Übergangsfrist hin zu Engpässen kommen. Wer kann, sollte nicht mehr aufschieben, sondern zügig die Umstellung mit seinen Dienstleistern planen.

KB: Zurück zu den großen Entwicklungen: Was ist aus Ihrer Sicht der wirkliche Meilenstein bei der Überarbeitung, wo sitzt der Treiber für echte Veränderung und Verbesserung für die Anwender?

TH: Das ist der gesamte Komplex ‚Lieferkette‘. Die Prozesseigner werden auch dafür in die Pflicht genommen. Es gibt nun ganz klare Anforderungen an 2nd-Party-Audits und –Auditoren. Neben den Teile- und Produktionsausrüstungsherstellern sind nun auch Dienstleister wie Entwicklerbüros und auch Software-‚Lieferungen‘ dahingehend zu betrachten, wieweit sie als externe Anbieter mit einbezogen werden müssen. Statt abstrakter Forderung nach ‚Lieferantenentwicklung‘ gibt es ein ganz klares Fünf-Stufen-Modell für die Entwicklung des QM Systems für externe Anbieter. Auch hier sehe ich starke Verbesserungen für die Branche – jedenfalls ‚nach Pareto‘. Er passt für Bosch, Hella und Conti… die 10-Mann-Betriebe im Schwarzwald, die Zerspahner im Sauerland, der kleine Kunststoffspritzer im Emsland – die werden an den Forderungen zu knabbern haben. Aber die können ja auf die Unterstützung durch die DGQ bauen, auf Leute, die Freiheitsgrade interpretieren können, statt Formalismen überzustülpen.

KB: Ihre Gesamtbewertung in einem Satz?

TH: Der Standard ist aus meiner Sicht als Praktiker, Trainer und Auditor ‚handwerklich einfach gut gemacht‘.


Weitere Informationen:

Thorsten Höppner, Dipl.-Ing., DGQ -Trainer, Lead Auditor 3rd Party ISO TS 16949, nach 13 Jahren in Zulieferindustrie und bei OEM in HH seit 2011 selbstständig mit  QMH-Consulting GmbH in den Schwerpunkten Lieferantenentwicklung, Auditierung von Lieferanten nach VDA5.3, Training und Implementierung QM Systeme nach ISO 9001 und IATF und (Core-Tools (automotive Methoden nach VDA und AIAG, FMEA ,APQP ,SPC ,MSA , TPS, Reifegradabsicherung, Lean Production).

Kai-Uwe Behrends, Leiter  Landesgeschäftsstelle Nord der Deutschen Gesellschaft für Qualität e.V., Hamburg; Auditleiter der DQS; EFQM-Assessorentrainer

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